Musik wirkt. Das wissen wir. Sie trifft uns unmittelbar in der Seele. Berührt uns, beschwingt uns, bringt uns zum Lachen und zum Weinen. Über Klang, Rhythmus und Melodie erreicht Musik einen Zugang zu interpsychischen Prozessen. Die Verarbeitung von Ton und Takt in unserem Gehirn ist ein sehr komplexer Vorgang, an dem viele verschiedene Hirnareale beteiligt sind. „Die Wirkung von Musik in der Psychiatrie setzt da an, wo Sprache versagt, wo man keine Worte findet“, erklärt Annette Spehr, Musiktherapeutin im St. Antonius-Krankenhaus in Wissen. In der Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, die zum GFO-Verbund gehört, fällt dem emotionalen musischen Bereich eine besondere Rolle zu.
Durch die Musik werden tiefe Strukturen der menschlichen Psyche und oft ein überraschender Tiefgang erreicht. In der Musiktherapie finden viele Patient*innen Wege aus der Isolation. „Ob aktiv oder passiv – Musik stimuliert die Bereiche des Gehirns, die für kognitive, affektive und sensomotorischen Prozesse zuständig sind und eignet sich daher auch als Weg, um verlorene Fähigkeiten wieder zu erlernen“, fasst die Musiktherapeutin zusammen.
Es geht um jede Art von Klang
„Ich bin völlig unmusikalisch.“ Diesen Satz hört Annette Spehr oft im Klinikalltag. Doch dieser Einwand zählt nicht. Wer einzeln oder auch in der Gruppe in die Musiktherapie kommt, muss keine musikalischen Vorkenntnisse mitbringen. Es geht um jede Art von Klang, nicht nur bestehende Kompositionen. Das Instrumentarium, das Orff-Instrumente wie u.a. Glockenspiel, Xylophon, Klangstäbe, Trommeln, Triangeln sowie Volksinstrumente aus verschiedenen Kulturkreisen und Orchesterinstrumente umfasst, muss man nicht näher kennen. „Die Instrumente sind für die Patienten leicht zugänglich“, sagt Annette Spehr. „Es geht um Klänge und um Ideen der Improvisation.“
Emotionen wecken
Im St. Antonius-Krankenhaus kommen Patient*innen in die Musiktherapie. Viele sind wie betäubt, sie haben verlernt, ihre Gefühle wahrzunehmen und zuzulassen. Aus fachlicher Sicht ist allein schon aufschlussreich, welches Instrument sie auswählen und wie sie es spielen. Das kann zum Beispiel eine Kalimba sein: Das kleine Daumenklavier ist aus Holz, durch Anschlagen schmaler Metallstäbe werden diese in Schwingung gebracht und ein Klang entsteht. Die Musiktherapeutin hat beobachtet: „Das starke Vibrieren ist für viele sehr angenehm. Es weckt Emotionen, sie fühlen sich gut aufgehoben.“
Effekte können vielfältig sein
So wirkt Musiktherapie anregend, ohne das jeweilige Problem direkt in den Fokus zu rücken. Die Welt der Musik spricht ganz verschiedene Ebenen und Bereiche an; sie wirkt sich aus auf Orientierung, Motorik, Kommunikation, Interaktion, emotionale Arbeit und Motivation für andere Therapien sowie Fühlen, Hören, Sehen, Erinnern, Aufmerksamkeit und Konzentration. Die Effekte können sehr vielfältig sein, um einige Beispiele zu nennen: Musiktherapie kann Kreativität fördern, starre Verhaltensmuster überwinden, die Menschen dazu bringen, über ihre Grenzen hinaus zu gehen.
Ausdruck für Empfindungen
Über die Klänge können die Patient*innen ihre emotionalen Bedürfnisse und Empfindungen ausdrücken. Tonhöhe, Lautstärke, Tempo vermitteln Botschaften. Aggressives Trommeln ist zum Beispiel eine deutliche Ausdruckform, nur ohne Worte. Gefühle wie Angst, Wut, Trauer werden – oft überraschend – erlebbar und können verarbeitet werden. Wenn möglich, wird auch darüber gesprochen. Oft sagen die Patient*innen: „So klingt meine Seele.“ Bei der passiven Therapie bekommen die Teilnehmer Musik live oder „aus der Konserve“ vorgespielt. Dabei geht es um die Wahrnehmung und Verarbeitung von akustischen Reizen sowie Stabilisierung und Stimulierung.
Ressourcen wieder stärken
Mit der Therapie verbinden viele Menschen eine angenehme Wirkung für Körper und Seele: Für sie wirkt Musik wie Medizin. Sie kann Schmerzen lindern, Ängste mildern, Spaß und Spiel in der Gruppe und soziale Kompetenzen fördern oder auch wieder das gute Gefühl von Normalität bringen. Die Patient*innen werden dabei nicht unmittelbar mit ihren Defiziten konfrontiert, was Annette Spehr sehr wichtig ist: „Die Musiktherapie legt vielmehr den Fokus auf die Fähigkeiten des Patienten, um seine Ressourcen wieder zu stärken.“